Skitouren im Schnee – und wie!

Motto: Das Merkmal des alten Soldaten ist, dass er vermeidbare Risiken vermeidet.

31.1.22 – Wannenspitz (1970 m)

Die Wetteraussichten sind schlecht vom Mittag des ersten bis zum Morgen des dritten Tages. Genügend Lesestoff mitnehmen scheint mir deshalb fast wichtiger, als die Laufflächen wachsen. Vom Treffpunkt in der Raststätte Rheintal geht’s für die erste Tour nach Furna im Prättigau, denn dort gibt’s im Gegensatz zum Unterengadin ausreichend Schnee für unsere erste Tour. Die zahllosen Kurven hinauf zum abgelegenen hübschen Dorf und weiter, an der einladenden Beiz vorbei, die wir uns für nachher aufsparen, bis zum Parkplatz am Strassenende, wo vom Talhang herab die Abfahrtsspuren enden. Diesen folgen wir in der Gegenrichtung, längere Zeit auf einem Alpsträsschen. Wo sich der Wald lichtet, zeigt sich, dass noch nicht aller Schnee von Vorgängern zerwühlt ist. Bessere Aussichten als erwartet. Nach einer Rast weiter und südseitig halb um den kleinen Gipfel herum und hinauf. Sie Sonne, die sich bisher ein paarmal durch die aufziehenden Wolken versichert hat, dass wir alle schön diszipliniert aufsteigen, zieht endgültig den Vorhang; es beginnt ins Nebelgrau zu schneien. Bis alle abfahrbereit sind, hüllen uns Nebel und Schneetreiben ein. Die Orientierung wird gleich schwierig. Roman fährt mutig voraus ins weisse Nichts; wir können uns wenigstens an seiner Spur und Silhouette orientieren. In einem Moment des Zögerns weiss Vreni Rat und Richtung, weil sie vor kurzem dieselbe Tour gemacht hat. In Kürze sind wir auf der Alp mit dem Wegweiser, wo die Bewaldung beginnt und die Orientierung erleichtert. Dank des bisschen Neuschnees wird der Rest der Abfahrt zum Vergnügen. Kurz nach Mittag kehren wir im heimeligen Restaurant ein – als einzige Gäste. – Durch den Vereinatunnel ins Unterengadin zum Quartierbezug in Ftan, wo ebenfalls schon etwas Neuschnee liegt.

1.2.22 – Muot da l’Hom (2512 m)

Früh wecken uns die Schneepflüge; es hat kräftig geschneit. Weil der Schneefall erst gegen Mittag nachlassen soll, starten wir erst um zehn. Die Prognose erfüllt sich. Der Aufstieg verläuft im zauberhaft verschneiten Winterwald, zu Beginn auf teils geräumten Waldsträsschen, dann folgen wir einer eingeschneiten Biker-Route. Nicht zu reden von Passagen abseits, wo die Neuschneehöhe von 50 cm das Vorankommen erschwert, vor allem jenen Frauen und Männern, die sich beim Spuren ablösen. Vor der Alp Laret (2200 m) lassen wir einem jungen Ostschweizer Burschen, der uns mit seinem Vater einholt, nicht ungern den Vortritt. Doch schon bald trennen sich unsere Wege wieder. Dafür begleitet uns getreulich – wie von Roman vorausgesagt – ein bissiger NW-Wind bis auf unseren flachen Gipfel. Gern verzichten wir auf einen Gipfelrast, stellen aber mit Freude fest, dass der Schneefall aufgehört hat und die Sicht recht gut geworden ist.

Ein Abfahrtsvergnügen erwartet uns, wie man’s nicht jeden Winter erlebt. Neuschnee in Überfülle, federleicht. Man darf auch in coupiertem Gelände bedenkenlos viel wagen. Trotzdem gibt’s nur einen einzigen Sturz. Eine euphorische Stimmung erfasst uns. Glückstrahlende Gesichter bei jedem Zwischenhalt. Zum Schluss schlägt Trudi gar vor, nochmals ein paar hundert Meter aufzusteigen – so gross ist die Freude über den unerwarteten Genuss. Doch mehrheitlich sind wir mittlerweile zeitlich vorangerückte Senioren, die auch ein wiederholter Genuss beglückt.

2.2.22 – Pisten-Umrankung 

Der Wetterprophet von Radio SRF hat ins Schwarze getroffen: Es hat die ganze Nacht dicht geschneit und macht trotz allem Schneeschleudern und -räumen ungerührt weiter. Deshalb ist am Frühstückstisch mehr vom Jassen die Rede als von einer Tour. Immerhin wird um zehn zum Aufbruch geblasen, was Martin und ich, in tiefsinnige Gespräche über Marder und Siebenschläfer als ungeliebte Untermieter vertieft, beinahe verpassen. Bald alle auf guter Spur in Pistennähe bergwärts unterwegs. Die feuchte Wärme erfordert bei einigen Tenue-Erleichterung. Als alter Gstabi mit kalten Fingern gerate ich dabei ins Hintertreffen und werde ungewollt zum Ziel einer Suchaktion des besorgten Patrick, weil ich im Schneetreiben zu spät bemerkt habe, dass alle andern jenseits der Piste weitergezogen sind. – Bezeichnend, dass allseitiger und deshalb meist zersplitternder guter Wille die Zielerreichung erschwert, statt fördert.

Schliesslich alle wohlbehalten im Schneegestöber vor dem Restaurant der Bergstation. Mittagszeit, deshalb Anstehen vor dem Eingang. Als Nachzügler finden wir Unterschlupf, wo ich noch nie war: in einer diesen durchsichtigen Verpflegungs-Rondellen, wo eine junge Frau in der Mitte versucht, ringsum die Getränke- und Snacks-Wünsche der ungeduldigen, meist jungen Kundschaft bestmöglich zu erfüllen. Heute aber ist niemand ungeduldig, jede und jeder froh, für ein Stündchen dem Schneegestöber zu entkommen und die Feuchtigkeit auf dem Leib zu vergessen. Die dauerhaft miserable Sicht erzwingt die Abfahrt auf der Piste, wo ich brav den Vorausfahrenden folge in der Hoffnung, diese möchten den Pistenverlauf kennen. Unversehrt und vollzählig landen wir an der Talstation und schon um eins im Hotel zum Duschen, Dösen, Schlafen, Jassen, Lesen.

3.2.22 – Mot da Set Mezdis (2155 m)

Gewaltige Schneemengen auf Dächern und Strassen: Von einer stattlichen Karosse auf dem Parkplatz ist unter der Schneehaube gerade noch das Nummernschild und das BMW-Zeichen zu sehen. Darüber der lichtblaue Engadiner Himmel. Die Morgensonne lässt mehr und mehr Gipfel und Flanken auf der Talseite gegenüber aufleuchten. Dieses grandiose Bild nehmen – im Sinn einer vorbildlichen Arbeitsteilung – alle in sich auf, die nicht mit der Befreiung unserer Autos von den Schneemassen beschäftigt sind.

Schon gestern war klar, dass wir heute angesichts der Lawinengefahr «nur» eine Tour in wenig steilem Gelände angehen dürfen. Und wir sind noch nicht lang unterwegs, fliegt bereits ein REGA-Heli über unsere Köpfe und nach einem guten Halbstündchen wieder zurück – ein deutliches Zeichen, wie auf der Heimfahrt die Radio-Nachricht von der Bergung eines Lawinenopfers in Scuol bestätigt.

Der Neuschnee ist durchfeuchtet und ziemlich schwer. Nach dem Aufstieg über Grasterrassen geht es wenig ansteigend auf einer Waldstrasse in grossen Kehren weiter. Schon schimpfen die ersten über «Stölle» an ihren Fellen. Wer vorne spurt, lässt sich auf einen mühsamen Job ein. Deshalb lösen sich Spurerinnen und Spurer fleissig ab. Als wir die Waldzone verlassen, ist die Gefahr, von einer Ladung Feuchtschnee frisch ab Tannenast getroffen zu werden, zwar vorbei; dafür geht’s nun, deutlich steiler und in tieferem Schnee zu unserem Tagesziel hoch, einem harmlosen Hügel mit begeisternder Sicht auf Berg und Tal. Weil zu erwarten ist, dass der Schnee in der Sonne bald noch schwerer wird, halten wir uns nicht lange auf. Doch die Abfahrt erweist sich als weit angenehmer als befürchtet. Wer’s wagt, zieht seine eigenen Spuren im unberührten Gelände; die andern folgen ihren Vorfahrern. Und schon wieder am Parkplatz. Ausklang in einem einladenden Lokal in Ardez. – Unser herzlicher Dank gebührt Roman und Patrick, die uns unter schwierigen Verhältnissen ein Optimum an Wintererlebnissen ermöglicht haben.

Text: Hanspeter Nef

Bilder: Vreni Kölbener