Passend zum Vorstieg unserer Clubnachrichten 2/23 hat Anita Rohner, Seniorenchenfin, noch mehr Beispiele gesammelt über SAC Säntis Mitglieder, die trotz einer körperlichen Beeinträchtigungen über sich hinauswachsen und ungemeins schaffen.
Leider konnten wir in den Clubnachrichten nur einen Teil davon abdrucken, weswegen wir euch hier den Vorstieg in gesamter Länge zum Lesen zur Verfügung stellen. -Eure Redaktion
Spitzensportler, Erstbesteiger, Bezwinger aller höchsten Berge der Welt, etc.– ist dies erstrebenswert? Sollen wir diese Sportler bewundern?
Ich selbst bewundere Sac’ler unseres Clubs, welche trotz körperlicher Beeinträchtigungen über sich hinauswachsen und ungemeins schaffen. Beispiel gefällig?
Der Weg zurück
Um die Mittagszeit an diesem Aprilsonntag 2002 sind wir sechs vom Berg im Urnerland auf dem Weg zurück. Mit aufgebundenem Ski queren wir in weiten Abständen eine Flanke. Ein Schneerutsch reisst mich unhaltbar in die Tiefe. Der Tourenleiter gräbt mich aus. Ich klage über starke Rückenschmerzen. Nach zwei Wochen im Koma erwache ich im Paraplegiker-Zentrum.
Es ist ein grausames Erwachen. Am Limit zum Ersticken. Erste Konversation mit den Ärzten und deren Information über die beiden getätigten Operationen an der Halswirbelsäule. Ängste, elende Unruhe, Lungenentzündung begleiten mich. Und bereits täglich Anleitungen und Therapien im Trinken, im Kauen und im Schlucken.
Nach drei Wochen wird eine stärkere Schraube in den gebrochenen Dens* im Genick eingetrieben, vier Brustwirbel sind nun versteift, die Wirbelsäule beidseitig mit zwei Stangen fixiert. Anschliessend folgt die feste Montage eines Körper-Kinn-Kopfpanzers für ein Jahr. Täglich interne Geh-Lektionen.
Im Juli mit der Rückgabe des Rollstuhls die vorläufige Entlassung aus dem Zentrum. Zuhause kommt der mir dort geforderten Bewegungs-Manie das Appenzellerland entgegen. Stets zu Fuss und zügig unterwegs in die sanften Höhen und in die Einsamkeit, Körper und Geist freut’s.
Wenig Freude und mehr Enttäuschung gibt’s allerdings im Dezember, weil der gebrochene Dens einfach nicht zusammenwachsen will. Der anberaumte nötige Eingriff kann ich nach monatlich negativen Tests bis zum nächsten Frühjahr hinauszögern. Dann aber im April der frohe Befund – der Dens wächst wohl langsam, aber kontinuierlich, zusammen. Im Sommer ist der Körperpanzer abmontiert und im Herbst wird das doppelte Gestänge parallel zur Wirbelsäule herausoperiert.
An den darauffolgenden Weihnachten 2003 mache ich die erste Skitour mit zwei treuen SAC Säntis-Kollegen im Prättigau.
*Dens axis (lat.): Zahn des 2. Halswirbels
Neuropathische Schulteramyotrophie
Die Versteifung dreier Halswirbel sei eine Plazebooperation gewesen, erklärt mir der Neurologie-Professor nach eingehender Abklärung meiner Lähmung des Faustschlusses in der rechten Hand. Ich habe vor wenigen Jahren die Indikation zur Operation als Hausarzt selber in Zusammenarbeit mit Neurologen und Neurochirurgen gestellt. Weil sich danach gar nichts erholt hat, haben weitere Untersuchungen die Diagnose einer immunologischen Schädigung des Venengeflecht des Nackens, genannt neuropathische Schulteramyotrophie, ergeben.
Ich habe nur sehr wenig Kraft in den Fingerbeugern und keine Schmerzen oder Gefühlsstörungen. Glücklicherweise habe ich für die meisten täglichen Belange eine Lösung gefunden. Klettern ging anfänglich gar nicht mehr. Das hat mich sehr belastet. Ich bin dann auf die Idee einer Konstruktion mit einem Hook gekommen und fixierte diesen Metallhaken mit einer Bandage ums Handgelenk und um einen Finger. Nach anfänglichen Konstruktionsproblemen funktionierte das sehr gut und Kletterer nennen mich beim liebevollen Übernamen Captain Hook. Ich habe wieder sehr viel Freude am Felsklettern und mittlerweile steige ich wieder bis zum 6. Grad vor.
Wer rastet – der rostet!
Ich war kein sportliches Talent, habe aber jede Gelegenheit zum Skifahren genutzt und mich schon während der «Stifti» in der Skiakrobatik geübt.
Prägender Unfall: Freitag 13.11.87 bei einem Sturz von einem Hausdach, bin ich auf den Rücken gefallen. Nach der Röntgenaufnahme im Spital durfte ich mich während sechs Wochen nicht mehr bewegen. Ich wurde ruhiggestellt wegen einer Fraktur des fünften Lendenwirbels. Wieder Zuhause durfte ich bis zum 31.3.1988 ein Gewicht von maximal 1 kg tragen. Am 1. April (kein Scherz) stieg ich mit den Skiern wieder zum ersten Mal von der Waldhütte auf die Hochalp. Man prophezeite mir eine Rückenversteifung mit ca. 60 Jahren. Dies wurde bis jetzt (bald 70 Jahre alt) zum Glück noch nicht nötig. Dennoch plagen mich andauernde Rückenschmerzen. Klettern hilft den Rücken zu entlasten – tut mir gut!
Von Geburt an ist meine Kniescheibe nicht zentriert. Deshalb verzichte ich auf Hochtouren, denn abwärtsgehen ist sehr schmerzhaft, das Knie schläft ein. Eine OP ist nicht möglich. Velo fahren und klettern machen mir Freude und entlasten die Knie.
1993 – Verbrennungen! Beim Anheben eines Bitumenkessels schwappte das heisse Bitumen aus dem Kessel und verbrannte mich im Gesicht, an den Armen und am Körper. Zum Glück habe ich kurz zuvor während einer Tourenwoche den Trugberg, das Grosse Grünhorn, das Wannenhorn, das Fiescherhorn und das Finsteraarhorn bestiegen. Dank der Besteigungen in dieser 4000’er-Gegend war mein Blut mit besonders vielen roten Blutkörperchen angereichert. Ansonsten hätte ich laut Arzt die Verbrennungen kaum überlebt. Ich lag 3 Wochen im Unispital Zürich. Zutritt war nur mit Schutzkleidung erlaubt. Höllische Schmerzen erlitt ich wegen der Hautverpflanzungen. Die Morphiumspritzen linderten die Schmerzen kaum. Die Heilung dauerte ein Jahr. Heute spüre ich nur noch wenig.
2011 wurde ich von einer Biene am Hals gestochen und fiel in Ohnmacht. Zum Glück rief eine Frau die Ambulanz, welche mich ins Spital fuhr. Nun trage ich immer ein Notfallset auf mir.
Vor drei Jahren durchquerte ich einen Bach. Etwas hat mich gestochen. Kurze Zeit später fiel ich in Ohnmacht. Personen fanden mich und organisierten die Rega. Ich überlebte wieder einmal mehr.
Trotz all dieser Unfälle steige ich immer noch mit Skiern auf viele Gipfel, bezwinge Berge kletternd, fahre mit dem E-Bike, wandere aufwärts und fahre mit dem Bähnli talwärts.
Bergsteigerzeit
Geboren 15.09.1953 in Bühler AR. Ich kam mit einer ausgekugelten Hüfte zur Welt. Mit zwei Geschwister wuchs ich auf einem Bauernhof auf.
1960 mit 7 Jahren wurde bei mir eine Wachstumsstörung festgestellt, linkes Hüftgelenk (Kugel) total abgenutzt, kein Knorpel mehr.
1961 musste ich für 3 Jahre ins Pflegeheim Bad Sonder in Teufen. Davon verbrachte ich ein Jahr im Bett. Mit einem Gewicht 1 Kg (Sandsack) wurde mir das Hüftgelenk auseinandergezogen, damit sich der Knorpel auf der Hüftkugel wieder bilden konnte. Danach bekam ich eine Schiene zum Laufen.
1964 Diese 3 Jahre warfen mich gegenüber Schulkameraden schulisch und sportlich sehr zurück. Mit einem starken Willen und der Unterstützung von Eltern und Lehrer konnte ich vieles wieder aufholen. Was mir in Erinnerung blieb ist das Skifahren, ich trainierte zu Hause an der Halde auf und ab, bis ich meine Schulkameraden wieder einholte.
1969 Wegen aller dieser Einschränkungen erlernte ich einen körperlich angepassten Beruf. Maschinenzeichner
1973 Im Militär konnte ich nur Hilfsdienst leisten. Trotz diesem Lebensverlauf bekam ich Freude am Bergsteigen. Bei Jugend und Sport besuchte ich Leiterkurse in Skifahren und Bergsteigen.
1983 erarbeitete ich mir das Bergführer-Patent und erhielt auf der Diavolezza den Fachausweis. Diese Ausbildung bereitet mir immer noch sehr viel Freude. Ein schöner Beruf, den ich den jungen Bergsteiger-innen nur empfehlen kann.
Mein Hauptberuf Maschinenzeichner mit Nebenberuf als Bergführer, Familie und Hausbesitzer konnte ich gut kombinieren.
In der Zeit bis jetzt musste ich mir künstliche Hüftgelenke einbauen lassen. Das erste 2011 und das zweite 2018. Ich hatte Glück und die Operationen verliefen sehr erfolgreich. Bis jetzt durfte ich ca. 2000 Tage mit Gästen unterwegs sein.
Bei meiner 50jährigen Bergsteigertätigkeit musste ich auch mit Unfällen umgehen können. Im 2005 stürzte ich mit SAC Säntiskollegen an der Aig. Argentière ab. Zum Glück kamen wir alle nur mit diversen Verletzungen davon. 2022 stürzte ich mit einem Gast am Schreckhorn im steilen blanken Eis ab und verletzte mich stark. Auch dieses Ereignis verlief gut.
Dank meiner Frau, den beiden Töchtern, den Kollegen und meinem Arbeitgeber konnte ich diese Ziele erreichen.
22.12.2022
Es lohnt sich also, bis ins hohe Alter aktiv zu bleiben, und wenn man noch jung ist und vom Schicksal geschlagen wird, heisst es: Nie aufgeben!
Die tollen Erfahrungsberichte hat Anita Rohner zusammengetragen. Zum Schutz der Autoren veröffentlichen wir die Berichte anonym.